Mitternacht. Frauenschreie hallen durch den U-Bahn-Schacht. Dank geistesgegenwärtiger Fahrgäste, die hinter den Fenstern einer einfahrenden U-Bahn stehen und die brutale Vergewaltigung per Smartphone in virtuelle Sphären streamen, kann die ganze Welt ihre Sensationslust befriedigen. Den Höhepunkt setzt ein Passant: Er erschießt den Vergewaltiger aus dem Hinterhalt.
Ein klarer Fall von Notwehr, sagen die Medien, noch ehe die Polizei am Tatort eintrifft. Die Polizei schießt nicht ganz so schnell. Was hatte der Mann am Tatort zu suchen? Warum trug er eine Waffe? Besitzt er einen Waffenschein? Die ganze Nation sitzt gebannt vor den TV-Geräten. Die ambitionierte Reporterin Melanie Max berichtet live vom Tatort und verspricht mit gebotener Betroffenheitsmiene die dringend nötigen Antworten auf bisher nicht gestellte Fragen zu liefern. War es wirklich bloß eine Vergewaltigung? Gibt es Anzeichen für eine politisch oder religiös motivierte Tat? Sind ausländische Mitbürger involviert? Obschon der schreckliche Vorfall ein Todesopfer gefordert hat, gibt es auch Erfreuliches zu berichten: Die Zivilcourage des treffsicheren Bürgers ist nicht hoch genug zu schätzen.
Prominente Interview-Partner wollen ihn gleich für das Bundesverdienstkreuz nominieren. Auch die Schaulustigen sind der Polizei in der Beurteilung des Falls weit voraus: Der Frau kann eine Mitschuld nicht abgesprochen werden. Was hat sie nachts, zumal in diesem Aufzug, auf der Straße verloren? An den Stammtischen kommt man zum Schluß, daß der Täter wenn schon kein Mörder, dann jedenfalls auch kein Ausländer ist. Melanie Max kündigt derweil ein Gewinnspiel an, in dem man wahlweise für Notwehr oder Todesstrafe stimmen kann. Wir blenden uns aus und warten lieber die Ermittlungsergebnisse ab.
Diese bringen denn auch Ungereimtheiten ans Licht. Aufzeichnungen der Überwachungskameras zeigen, daß der Schütze dem Akt eine Weile zugesehen und erst beim Höhepunkt geschossen hat. Der Held versteht den ganzen Wirbel nicht. Welchen Unterschied soll es machen, ob er "das Schwein" ein paar Sekunden früher oder später erledigt hat? Ungefähr 15 Jahre, erklärt der Staatsanwalt. Im Kommentar einer TV-Nachtsendung wird indes klargestellt, daß ein paar Sekunden hin oder her einen Bundesverdienstkreuzträger nicht zum Mörder machen.