Vor einigen Monaten wurde Jean wieder einmal aus dem Gefängnis entlassen. Eine vorübergehende Bleibe fand er im "Hotel Vigo", einem jener verwahrlosten Häuser in den Nebengassen der Altstadt, die im Schatten des Weltkulturerbes Pelourinho stehen. Das "Vigo" steht unter der Leitung des Drogendealers Gurundé und wird von Huren und Fixern bewohnt. Wasser und Strom fließen nur bei günstiger Sternenkonstellation. Jean ist die Miete schuldig geblieben. Seit Monaten vertröstet er den Verwalter mit der Aussicht auf große Einnahmen aus einer Show der Jean Mitchel Blues Band, die eines Tages – da gibt es keinen Zweifel – auch stattfinden wird. Abgesehen davon steht Jean baldiger Reichtum ins Haus: der autobiographische Roman
Flores que não se cheiram steht kurz vor der Veröffentlichung. Allerdings hat sich der "Literaturagent" aus unerfindlichem Grund seit Wochen nicht mehr blicken lassen. Daß das Original-Manuskript gestern Nacht unter mysteriösen Umständen verschwand, ist Jean natürlich bekannt. Auch Gurundé hat Kenntnis davon, womöglich sogar seine Finger im Spiel, zumal Jean auch die handschriftlichen Seiten seines einzigen je veröffentlichten Romans
Anjos Negros vermißt. Dieser Verlust wiegt mindestens ebenso schwer, weil Jean die fünfhundert Buchexemplare einst gratis unter Analphabeten und Blinden verteilt hat, worin vermutlich der Grund zu finden ist, daß sie inzwischen allesamt verschollen sind. Weniger tragisch empfindet Jean das Abhandenkommen seiner restlichen Habseligkeiten: Zahnbürste, Rasierklinge, Malerpinsel sind ersetzbar. Wenn alle Stricke reißen, muß er wohl oder übel eines seiner begehrten Papageiengemälde produzieren, wofür ihm Vorbestellungen zuhauf vorliegen. Jean hat sich auf das Papageien-Motiv spezialisiert und beherrscht es aus dem FF. Doch seit seine Brille in Bruch ging, sieht er sich selbst dazu nicht mehr imstande.
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