Der Dieb in der Kirche
Vor wenigen Minuten war São Cristovão noch vom Berufsverkehr verstopft, doch nun floß der Verkehr wieder durch die Estrada Velha do Aeroporto, an der die kleine, protestantische Kirche lag, vor der Leandro Ferreira de Souza, den man freilich nur unter dem Namen Messias kannte, auf das Eintreffen seines ältesten Sohnes wartete. Die Stimme des Pfarrers drang aus der Kirche heraus und es schien, als wollte sie mit dem Straßenlärm konkurrieren, was ihr auch spielend gelang. Der Pfarrer hatte sich so sehr in Rage gepredigt, daß sich seine Stimme mehrfach überschlug. Emerson und Marcus Antonio, vier und sechs Jahre alt, zerrten an Messias' Armen und schrieen sich die Seele aus dem Leib. Sie waren wild entschlossen, in Panik zu geraten. Um keinen Preis der Welt wollten Ricardos Brüder in diese Kirche hinein. Der Vater hatte alle Hände voll zu tun, ihre Fluchtversuche zu unterbinden. Er befürchtete, sie könnten sich losreißen und womöglich einem Lastwagen unter die
 
Räder geraten. Doch seine Versuche, die Kleinen zu besänftigen, waren zum Scheitern verurteilt. Selbst als er versprach, sie dem wütenden Pfarrer nicht auszu- liefern, ließ die Zugkraft, die auf seinen Armen lastete, kaum nach. Messias kniete sich zu ihnen hinunter, wischte ihnen die Tränen ab, schloß sie in seine Arme und drückte sie fest an sich und so beruhigten sie sich langsam, auch wenn sie seine barmherzigen Blicke noch immer mit Skepsis erwiderten. Niemals hätten sie den respektvollen Abstand zum Eingang der Kirche aufgegeben. Messias erhob sich, versammelte die Kleinen vor seinen Beinen und streichelte über ihre Köpfe. Der Tränenschleier schützte die Kinder noch vor dem Anblick des entfesselten Gesichts des Pfarrers, dessen ungezügelte Wut sich über die Gläubigen ergoß. Endlich konnte Messias seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz der Predigt widmen. Ricardo war völlig außer Atem, als er die Estrada Velha do Aeroporto erreichte. Er brauchte nun eine
 
gute Ausrede für seine Verspätung, schließlich wußte er, daß sein Vater ein Lügendetektor war. Nur wenn er Glück hätte, könnte er vielleicht einer Ohrfeige entgehen. Mit seinem Vater war nicht zu spaßen. Und wenn es um den Gottesdienst ging schon gar nicht. Ricardo sollte gefälligst seine Sünden beichten , die er im Laufe einer Woche angesammelt hatte. Für den Vater bestand gar kein Zweifel, daß Ricardo einzig im Sündigen besonderes Talent bewies. Ricardo wollte dieses Talent gar nicht abstreiten, da er aus Erfahrung wußte, daß sich manche Sünden einfach nicht vermeiden ließen. Für seine Verspätung aber konnte er nun wirklich nichts! Schließlich war der überfüllte Bus im Verkehr stecken geblieben, wie es um diese Zeit, in der die Arbeitenden alle gleichzeitig nach Hause wollten, üblich war. So hatte die Fahrt vom Zentrum, die um kurz nach Fünf begonnen hatte, bis nach sieben Uhr gedauert, ohne daß Ricardo dafür eine Schuld getroffen hätte. Aber das ...