Der Weg zu Gott
Maria fühlte sich nicht besonders wohl. Sie mußte einen Augenblick verschnaufen. Gut, daß sich dieser Steinblock freundlicherweise anbot. Die Kirchenglocken hatten schon neun Mal geschlagen und sie hatte noch nicht einmal ein Drittel der Strecke geschafft. Nicht nur Maria hatte mit der Hitze zu kämpfen. Auch dem Obsthändler José brannte die Sonne auf die Stirn. Als er nun zum zweiten Mal mit dem auf den Rücken geschulterten Reisigkorb an Maria vorbeiging, lief ihm der Schweiß in Bächen hinunter. José betrieb auf dem Praça do Espírito Santo, dem Platz vor der Igreja do Espírito Santo einen Obststand. Man konnte den Platz nur über die Ladeira do Espírito Santo erreichen, diesen steilen Weg, den die Hügelbewohnern über die Jahre hinweg in Eigenleistung geschaffen hatten, weil sich die Stadtverwaltung darum nicht gekümmert hatte. Der Weg war so schmal, daß kaum zwei Leute nebeneinander gehen konnten und er fiel fast im Lot nach unten.
 
Maria hatte keine Eile. Im Alter von achtzig Jahren hat man keine Eile mehr. Heute fühlte sie sich müder als sonst, doch sie dachte nicht daran umzukehren. Man macht einen Schritt nach dem anderen. Auch wenn man nicht ankommt, so ist man doch gelaufen. "Bom dia Maria", rief Roque, der Sambamusiker, dem Maria immer zuhörte. "Bom dia Roque." Maria sah nach oben, aber so sehr sie sich auch mühte, sie konnte das Ende des Weges nicht erkennen. Die Sonne war schon hinter dem Berg aufgestiegen und warf ein flirrendes Licht in den Hang hinein. Maria wischte sich den Schweiß aus ihren Augen und blinzelte ins Sonnenlicht. "Selbst meine Augen lassen mich Stich!", sagte sie. Die Umrisse der Kirche flatterten im Gegenlicht und ihre Säulen schienen in der Luft zu schweben. Fast geisterhaft erschien sie Maria nun. Fast so, als sei sie nicht real, als existierte sie nicht wirklich, sondern nur in ihrer Vorstellung.
 
Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte und erbarmungslos herunter brannte, hatte Maria den Kirchenplatz erreicht. Die Kirche war ein denkwürdiger Palast, der vor fünfhundert Jahren von den Portugiesen gebaut worden war. Man sah ihr an, daß die Jahrhunderte an ihr gearbeitet hatten. Die hohen seitlichen Türme, die einst stolz in den Himmel strebten, waren bereits verfallen. Sie schienen sich vor Maria zu verbeugen, so daß Maria befürchten mußte, daß sie auf sie herabstürzen würden. Aus den verwitterten Zinnen hatten sich schon häufig kleine Brocken gelöst, um auf den Platz hinunter zu fallen. Es war ein Wunder, daß es noch keine Verletzten gegeben hatte. Zögerlich ging Maria auf das Kirchentor zu. Obwohl es weit offen stand, lud es nicht zum Eintreten ein. Maria blickte in den schwarzen Rachen hinein, doch sie konnte nichts erkennen. Die Kirche versteckte ihr Inneres in der Dunkelheit. Dann aber trat der Pfarrer aus der Dunkelheit heraus ...