DER VAMPIR
O VAMPIRO

DER VAMPIR - Poetisch-philosophisches Drama von Ricardo Salva
DER VAMPIR DOSSIER
O VAMPIRO DOSSIÊ
In den nächtlichen Gassen von Salvador, wo die Nachtgestalten wie Spinnen an den Haus­wänden kleben, wo der Tod an allen Ecken steht, wo zwischen Leben und Überleben kein Unterschied besteht, hier sucht Vincent nach Leben, nach Gefahr, nach Unglück, und nach ihr: der Hure, die sich »Glück« zu nennen wagt. Und er sucht nach seinem Freund Jean, der dem Hören­sagen nach auf dem Friedhof Quinta dos Lázaros liegt und doch zuweilen im Sergipe auftaucht. So steht Vincent Nacht für Nacht am Tresen dieser schäbigen Bar, wo sich der Abschaum der Stadt auslebt. Wenn die »Komparsen des Lebens« von ihrem Un­glück erzählen, fühlt er sich ihnen nah, er leidet mit ihnen und saugt ihr Leid in sich auf, um sich Gefühle zu verschaffen, die er selbst nicht zu empfinden imstande ist, denn ihr Unglück hat mit dem seinen nicht das geringste gemein. Irgendwo da draußen, vermutet er, muß es jemanden geben, der fühlt wie er, einen Artgenossen, der sein Leiden versteht, eine verlorene Seele auf der Suche nach ihrem Spiegel­bild, auf der Suche nach Nahrung, auf der Suche nach Leben.
Die schöne Consuelo kommt aus einer besse­ren Welt. Sie weiß selbst nicht, wie sie ihr Herz an Vincent verlor. Als ihn ein Tropen­fieber nie­derringt, wacht sie Tag und Nacht an seinem Lager und pflegt ihn aufopfe­rungsvoll. In ruhi­gen Momenten ver­tieft sie sich in die »Auf­zeichnungen eines Vampirs«. Darin entdeckt sie die Skizze einer Frau, die zugleich lacht und weint, und durch deren Gesicht ein Riß zu ge­hen scheint. Eine Frau, und doch sind es zwei, Alegria und Tristeza, zwei in einer vereint, eine Schimäre, in der sich die Gegensätze einen und sie zugleich zu zerreißen drohen. Das Bild­nis verstört Consu­elo zutiefst, zumal sie sich darin wieder­erkennt.

Als ein Unwetter auf Salvador niedergeht und ein Blitz das traurige Lächeln einer Frau im Fens­ter eines Busses erhellt, sieht sich Vin­cent erstmals mit seinem Spiegel­bild konfron­tiert. Fortan vergeht kein Tag, an dem er nicht un­ter den Wartenden an der Bushalte­stelle steht und in den Bussen nach der Frau mit dem regnerischen Lächeln Ausschau hält. Doch auf der Suche nach ihr wird er immerzu auf sich selbst zurück­geworfen, und er zweifelt mehr und mehr, ob es sie tatsächlich gegeben hat. …