Der Brief
Über Treue

Obschon die besten Tage ihrer Ehe längst hin­ter ihnen liegen, sind sich Walter und Maria über all die Jahre treu geblieben. Wenn sich die Gelegenheit bot, hat er sie schon mal be­tro­gen, doch sie zu verlassen hat er niemals er­wogen, weil er sich von liebge­won­nenen Din­gen ungern trennt. Ganz be­sonders hängt er an seinem Lieblingsanzug. Maria fehlen die Wor­te, als sie ihren Mann schon wieder in der abgetragenen Kluft in der Tür stehen sieht. Da sich die beiden beinahe blind, zumindest aber wortlos ver­stehen, genügt ein Kopf­schüt­teln, um Wal­ter zu einem Achselzucken zu bewe­gen. Und ehe Maria die Augen ver­dreht, huscht er augenzwinkernd hinaus.

Die Angelegenheit, die Walter in der Stadt zu erledigen hat, wird erfahrungsgemäß den gan­zen Tag in Anspruch nehmen. Schon an der Bushaltestelle kann eine Menge Zeit ver­lo­ren­gehen, zumal das Eintreffen des Bus­ses auch
vom Zufall abhängt. Und weil er für den Brief, den er auf den Weg bringen will, noch keine Briefmarke hat, wird sich ein längerer Aufent­halt in der Schlange vor dem Postamt kaum vermeiden lassen. Nach­dem er sich ausgiebig in der Kunst des War­tens übte, steht Walter endlich am Schal­ter und vor einem Problem. Sein ratloser Blick ändert nichts an der Tatsa­che, daß der Post­beamte auf den Geldschein nicht heraus­ge­ben kann. Der Rat, nach je­man­dem zu su­chen, der das nötige Kleingeld hat, ist zwar leicht da­hingesagt, hilft aber nicht weiter, wenn weder die Straßenhändler noch die Kas­siere in den anliegenden Läden Geld in den Kas­sen haben. So bleibt Walter nichts ande­res übrig, als die beträchtlichen Wechselge­büh­ren zu akzeptie­ren, die ihm ein Bettler ab­verlangt. Froh, end­lich wieder in der Schlan­ge zu stehen, wartet Walter geduldig, bis das Amt zur Mittagspause schließt. Er stört sich nicht daran, denn im Stehen ver­geht das Leben genauso schnell wie im Ge­hen, und ganz nebenbei können sich beim War­ten nette Bekanntschaften ergeben.
Am Nachmittag wird es ihm freilich nicht bes­ser ergehen. Inzwischen hat sich Walter als Meis­ter in der Kunst des Wartens erwiesen. Nun kann er sich in der des vergeblichen War­tens üben. Die Gleichmut, mit der er zur Kenntnis nimmt, daß es mittlerweile keine Briefmarken mehr gibt, erklärt er lakonisch da­mit, daß er den Brief nur seiner Frau zu­liebe aufgeben will, die nicht nachläßt, an die Toch­ter zu schreiben, obschon sie nie­mals Antwort erhält. Der an sich teil­nahms­lose Post­beamte ist davon so gerührt, daß er den verdutzten Kunden die Jalousie vor den Na­sen herunter­läßt, um mit Walter im Neben­raum bei einem Cafezinho über die Sorgen zu plaudern, die einem Kinder so gern bereiten. Walter klagt, daß die Tochter ihr Elternhaus im Streit ver­ließ, und daß sei­ne Frau Maria den Glauben an eine Ant­wort noch nicht ver­loren hat, aber den Glauben an Gott. "Den Glauben darf man nie verlie­ren", tadelt ihn der Beamte, während er in der Ablage "Unzu­stellbar" wühlt und einen Stapel Briefe zutage fördert. Walter kommt mit frohen Botschaften nach Haus.